Vivian Kellermann – Innerer Monolog

Mach dein Richtungsding!

Innerer Monolog

Nein! Mein Hut. Mensch, nicht schon wieder. Dieser verdammte Wind bläst mir immer meinen Hut vom Kopf.
Jetzt reicht es mir aber. Hebe den Hut wieder auf und klemme mir ihn dieses Mal unter den Arm.
Natürlich bläst der Wind jetzt durch meine mittlerweile grauen Haare. Diese sind jetzt auch nicht die kürzesten, so dass sie auch zwischenzeitlich in meinem Gesicht hängen.
Mal abgesehen davon, dass es kühl wird. Ich meine, wir haben Herbst. Zwar erst 18 Uhr, aber um diese Jahreszeit wird es ja schneller dunkel. Na, dann beeile ich mich jetzt ein bisschen.
Ich möchte gerne in den Dicken Krug, meine Stammkneipe.
Meine Frau sagt immer, ich trinke zu viel. Aber die hat sowieso immer etwas zu meckern.
Die Straßen sind leer. Ich sehe heute kein Auto. Was ist denn los? Na ja, egal.
Aber da hinten sehe ich einen Fußgänger. Doch was macht er da?
Er schwingt seine Arme. Braucht er Hilfe? Kriegt er keine Luft mehr?
Ich laufe los, bereit das Leben dieser Person zu retten.
Doch nach kurzer Zeit bleibe ich stehen. Es ist alles in Ordnung. Das ist John, für ihn ist das normal. Und da ich jetzt näher dran bin, sehe ich auch genauer, was er da macht. Er läuft breitbeinig, dabei beugt er sich nach vorne und schwingt seine Arme, als würde er jeden Moment den Halt verlieren. Was das soll, weiß ich auch noch nicht, und ich bezweifle, dass ich es je herausfinden werde. Außer ich frage ihn, aber ich lass das lieber.
Ich kann mich nämlich noch gut an das letzte Mal erinnern. Da musste ich mich mit ihm unterhalten, aber auch nur weil meine Frau ihn so unbedingt mal kennenlernen wollte.
Dieses Gespräch ging eine geschlagene halbe Stunde, über seine Mutter und seinen Vater und wie man ihn nicht nennen soll, weil die Mutter gesagt habe, das sei böse. Dazu gab es ein was-weiß-ich-wie-langes Händeschütteln und eine Umarmung, die mir buchstäblich den Atem raubte. Nein danke, nicht nochmal.
Aber John kann ja nichts dafür, er hat das Down-Syndrom. Dann ist man so. Zumindest sagte das meine Frau, sie interessiert sich für so etwas.
Sie sagte immer, ich soll zu John nett und freundlich sein, dann freut er sich.
Meine Taktik: ihn zu ignorieren – soweit es geht. Nur ist es schwer, dies als Nachbar zu tun.
Also halte ich weiterhin Abstand und beobachte dabei, wie eigenartig er läuft.
Als Nachbar erfahre ich jeden Tag, wie es ist, ein Down-Syndrom-Kind zu haben, und ich muss sagen: Respekt! Eigentlich ist John schon 25 oder so. Auf jeden Fall kein Kind mehr, aber er benimmt sich noch so. Gut, dass seine Mutter so viel Geduld hat, sie erklärt ihm alles, egal wie bescheuert die Fragen sind. Im Gegensatz zum Vater, er hat nicht unbedingt Lust, jede Frage zu beantworten. Kann man doch verstehen, oder liege ich jetzt falsch?
Meine Frau würde sagen: „Ja, es sind nur Fragen, also beantworte sie!“
Hmm, vielleicht ist das ja so ein Frauending?
Aber der Vater unterstützt seinen Sohn auch. Wenn man John zum Beispiel als Mongole oder Depp beleidigt. Dann kann sein Vater richtig wütend werden. Das wollt ihr echt nicht erleben.
Jeden Moment bin ich da. Nur noch gleich an der Kreuzung vorbei.
John bleibt stehen. Warum? Ich bleib auch stehen. Warum?
Er guckt schnell nach rechts und links. Dann rennt er los und bleibt an der anderen Straßenseite stehen. Man könnte meinen, er denke, er würde verfolgt werden.
Doch nicht von mir, oder?! Ich meine, nur weil er die ganze Zeit vor mir läuft. Oder auch ich hinter ihm.
An der Kreuzung angekommen, will ich auf den Ampelknopf drücken, bemerke aber, dass die Ampel defekt ist.
Vielleicht ist er deswegen so schnell über die Straße gerannt. Zwar würde nie ein Auto so aus dem Nichts auftauchen, aber es ist John.
Ich sehe schon den Dicken Krug und John nicht mehr. Wo ist er denn hin? Egal.
Ich gehe rein. Und wen sehe ich – John. Nein, kein Gespräch, ich wollte doch nur etwas trinken. Ich will wieder gehen, als mich Mike der Barkeeper begrüßt.
„Hey Jörg, das Übliche?“
Ich gehe schnellen Schrittes auf ihn zu und zeige mit einer Geste: Er soll ruhig sein. Mike guckt mich nur irritiert an, aber das ist mir gerade unwichtig.
Hat mich John entdeckt?
Nein. „Jetzt übertreib mal nicht, Jörg, so schlimm ist er auch nicht!“, rüge ich mich selbst.
Wenn ich ehrlich bin, sitzt John gerade auch an einem Tisch.
Jetzt, da ich auch sitze und John mich nicht bemerkt hat, nicke ich Mike zu und bekomme kurz darauf auch meinen Whisky.
Meistens sitze ich hier nur und trinke. Manchmal unterhalte ich mich mit Mike.
Heute gucke ich mir einfach die Bar an. Wie oft ich das schon gemacht habe. Die Bar hat einen älteren Stil. Der Eingang beginnt mit einer Tür, diese ist aus Holz. Dann kommt man in einen kleinen Flurbereich, in dem man seine Jacken und Schirme aufhängen kann. Meinen Mantel würde ich nie dorthin hängen. Viel zu große Angst hätte ich, dass jemand mir etwas daraus klaut. Ich habe mein Portemonnaie immer in der Innentasche meiner Jacke.
Danach geht man durch einen großen Bogen und sieht die Bar, diese ist aus dunklem Holz. Hinter ihr befinden sich Schränke und Regale voller Alkoholflaschen. Vor der Bar sind die Barhocker ebenfalls aus Holz. Eigentlich ist hier beinahe alles aus Holz. In Kurzfassung heißt das: Wenn der Laden Feuer fängt, kann man hier nichts mehr benutzen.
Okay, zugegeben, dann hätte jede Kneipe ein Problem. Ich meine ja nur, sie haben überall Alkohol stehen.
An den Wänden hängen ein paar Tierköpfe. Zum Beispiel ein Hirsch, genau mein Stil. Nur meine Frau erlaubt es nicht. Sie findet es ganz schrecklich, wenn ein Tier einen so anstarrt.
Ich gucke mir die Tische an, bis auf einen Tisch sind alle besetzt. Meistens sitzen hier ältere Menschen und unterhalten sich über Gott und die Welt. An einem anderen Tisch sehe ich John, dieser sitzt in der Ecke unter einem Fenster. Dort sitzt auch ein Mann mit nur einem Arm, ihn kenne ich nicht. Auch eine Frau, die ich nicht kenne, sitzt mit am Tisch. Dann sehe ich Herrn Märker, meinen Arbeitskollegen. Wir unterhalten uns nicht viel, aber er ist nett, und ich weiß auch, dass er sich öfter mit Johns Vater trifft, der ebenfalls am Tisch sitzt. Sie spielen Poker. John hilft dem einarmigen Mann, er gibt ihm Karten und der Mann steckt sie in das Brett.
Die Frau kommt auf mich zu. Was ist jetzt? Will sie mich anmachen? Ich bin bereit meine Hand zu heben. Um ihr den Ring zu zeigen, damit sie sieht, dass ich verheiratet bin, nicht um sie zu schlagen.
Oh, ach so – sie geht Bier bestellen. Ich werde noch paranoid!
Die Gruppe spielt weiter, und ich bestelle mir noch ein Whisky.
Jetzt bekommt die Gruppe ihr Bier, sogar John darf etwas trinken. Sie stoßen an und John zieht sein Gesicht zusammen, als würde er das Bier nicht mögen. Warum trinkt er es dann?
Wie auch immer, er möchte etwas sagen, doch sein Vater unterbricht ihn. Also ist John still.
Die anderen legen die Karten auf den Tisch. Das Spiel ist aus. Alle reden, nur Johns Vater nicht. Anscheinend hat er verloren. Sie zünden sich Zigaretten an. Nur der Einarmige stopft sich seine Pfeife. Also echt, ich muss schon sagen, mit nur einem Arm kann er das richtig gut.
John möchte wieder etwas sagen. Doch sein Vater lässt ihn nicht ausreden und macht ganz kleine Augen. Meine Güte, was für ein schlechter Verlierer.
„Verloren ist verloren“, sagt Herr Märker. Jetzt ist klar, er hat verloren.
John reibt sich die Augen, anscheinend ist er müde.
Der Tisch nebenan bricht in schallendes Gelächter aus. Sie haben wohl etwas zu viel getrunken.
Ich trinke meinen letzten Schluck Whisky und bestelle mir ein letztes Getränk.
„Bier bitte, Mike“, sagte ich zu Mike.
„Klar“, kommt die knappe Antwort.
Kurze Zeit später habe ich das Bier auch schon in der Hand.
Nach diesem Bier werde ich nach Hause gehen.
„Hallo Mama, hier sind wir“, höre ich nur, und aus Reflex drehe ich mich zu der laut rufenden Person um:
John. Danach drehe ich mich zu der angesprochenen Person um: Johns Mutter. Sie guckt nicht gerade freundlich.
Sie begrüßt die anderen kurz und mit Desinteresse. Dann wendet sie sich ihrem Mann zu und sagt: „Wie lange soll der Herr Meil noch warten?“
„Was ist mit Eckart?“, erwidert ihr Mann.
„Wegen der Heizung, der Mark sollte dich holen.“
Ach, das war dann wahrscheinlich die Nachricht, die John die ganze Zeit schon überbringen wollte.
Nur, dass ihn sein Vater die ganze Zeit unterbrochen hat.
Sein Vater sieht jetzt richtig wütend aus. „Du verdammter Depp!“, sagt er wütend. John macht sich ganz klein.
Der arme Junge, er hat doch keine Schuld.
Johns Vater steht auf, und John versteckt sich hinter dem Einarmigen.
Johns Vater wird ihm doch nichts tun? Die anderen Männer und seine Frau sehen genau zu, wirken aber nicht besorgt. Das heißt dann wohl, dass nichts passieren wird.
Aber wenn etwas passieren würde, würde ich dazwischengehen.
Ist wohl eine Eigenschaft, die meine Frau an mir liebt. Seine Frau sieht mich noch an, lächelt kurz, ich erwiderte es. Doch sie muss schnell weg, denn sonst hätte sie mit mir sicherlich noch ein paar Worte gewechselt. Aber Johns Vater hat es nun eilig und verlässt die Bar, und seine Frau folgt ihm.
John steht immer noch hinter dem einarmigen Mann, dieser zieht ihm am Arm und sagt, er soll seine Pfeife stopfen. Er gibt ihm dabei Anweisungen, wie er das zu tun hat. Am Ende lobt er ihn. Jetzt lächelt John wieder. Wahrscheinlich wollte der Mann, dass John sich wieder beruhigt, hat wohl auch geklappt.
Alle trinken noch ein Bier. Ob das so gut für John ist?
Sie fangen wieder an zu spielen, und John reicht dem einarmigen Mann die Karten.
Dieser sagt noch etwas zu ihm. Dann knallt Johns Kopf auf den Tisch, und er rührt sich nicht mehr.
Huch! Was ist denn jetzt los?
Doch die Männer lachen nur. Ähm, okay – braucht er jetzt Hilfe?
„Hat wieder zu viel getrunken“, sagt mein Arbeitskollege. „Er kann das doch nicht wissen“, verteidigt die fremde Frau John.
„Ich weck ihn auf“, kommt es lachend von dem einarmigen Mann.
Dieser rüttelt solange an seiner Schulter, bis John ein wenig schreckhaft aufwacht.
Ich habe derweil mein Bier ausgetrunken und bezahle meine Getränke. Ich will langsam nach Hause, meine Frau macht sich bestimmt Sorgen.
Ich ziehe meine Jacke an, die ich ja bei mir habe, und sehe dabei zu, wie John noch einen Schluck Bier trinkt. Dann steht auch er auf. Wird er mich sehen? Obwohl, es wäre mir irgendwie egal.
Doch trotzdem hat er mich immer noch nicht gesehen, stattdessen starrt er gerade eine Frau an, die ihm wohl ein wenig Angst macht, nach seinem Gesichtsausdruck zu urteilen.
Ihr fällt der Mantel hin und sie will ihn aufheben, dies bekommt sie aber nicht hin, oder sie macht es extra. John lacht sie aus – und hört dann auf. Was zum Teufel geht in seinem Kopf vor?
Er hebt den Mantel auf, und sie bedankt sich
Jetzt strahlt er und geht raus.
Ich bin auch fertig und begebe mich nach draußen.
Ich sehe John, er hüpft über die Straße. Freut sich wohl riesig. Doch plötzlich hört er auf. Stellt sich gerade hin und zieht seinen Arm aus der Jacke. Den Ärmel steckt er in die Jackentasche und läuft jetzt ganz stolz.
Wir gehen beide heimwärts. Ich aber auf Abstand bedacht, ich weiß nämlich nicht, was gerade in seinem Kopf vorgeht.
An der Kreuzung angekommen, rennt John wieder über die Straße. Sonst macht er nichts Ungewöhnliches.
Ich laufe ganz gemütlich, während John etwas schneller geht, so dass ich ihn bald nicht mehr sehe. So laufe ich eine Weile alleine in der Stille.
„Du Mongole!“
„Lass mich in Ruhe“, höre ich jemanden rufen. Wer war das? Schallendes Gelächter ist zu hören.
Ich laufe schneller und sehe John auf dem Boden liegen.
„Geht, oder ich rufe die Polizei!“, schreie ich die Jungs an. Sie kriegen Panik und rennen weg.
John hat sich kein bisschen gerührt. Ich kniee mich zu ihm nieder.
„Hey, alles in Ordnung? Ich bin’s, dein Nachbar Herr Mischni.“
Langsam sieht er auf, und nach kurzem Zögern helfe ich ihm auf.
„Komm, ich bring dich nach Hause.“ Als wir an der Tür angekommen sind, klingelt er, und seine Mutter macht auf. Sofort scheint er wieder glücklich zu sein und sagt „Hallo“, als wäre nichts passiert. Seine Mutter scheint ein wenig verwirrt zu sein, was ich hier mache, und fragt dies auch sogleich. Ich erwiderte nur, dass ich das mit ihr und ihrem Mann besprechen sollte. Es sollte etwas gegen diese Jungs getan werden.
Sie sagt auch sofort, dass John in sein Zimmer soll, und holt dann auch ihren Mann an die Tür.
Ich erzähle ihnen in Kurzfassung was ich mitbekommen habe, und sie scheinen danach sehr wütend zu sein.
Sie bedankten sich bei mir und versprechen, dass sie sich morgen darum kümmern werden.
Ich bin jetzt auch heilfroh, dass ich endlich nach Hause zu meiner Frau kann.
Diese sitzt im Wohnzimmer und guckt Fernsehen. Ich ziehe mir meinen Mantel aus und hänge noch meinen Hut an den Haken. Völlig erschöpft setze ich mich neben meine Frau.
Diese scheint mich kaum zu beachten. Scheint wohl etwas zickig zu sein, dass ich wieder etwas trinken war.
„Ja, ich war etwas trinken, kann ich jetzt bitte einen Kuss von dir haben?“
Völlig erstaunt sieht sie mich an. „Welche Laus ist dir denn über die Leber gelaufen?“
Ich seufze, muss ich ihr das jetzt wirklich erzählen? Sie starrt mich weiterhin an.
Das heißt wohl „Ja“. Also erzähle ich ihr von dem, was ich gerade erlebt habe, und als ich ende, starrte sie mich immer noch an.
„Was ist?“, bricht es aus mir heraus, weil ich gerne wissen will, warum sie mich so anstarrt.
Doch anstatt etwas zu sagen, küsst sie mich. Warum sind Frauen so verdammt kompliziert?
Als wir fertig sind, liegt es an mir, sie verwirrt anzustarren.
„Warum?“, frage ich nur.
„Ich bin stolz auf dich, du hast genau das Richtige für John getan.“
Jetzt grinse ich und küsse sie, dieser Kuss wird schnell leidenschaftlicher.
Hatte ich vorhin noch gesagt, dass ich total kaputt bin, ist davon im Moment nichts mehr von da.
Ich bin zwar älter, aber noch lange nicht enthaltsam.
Ich denke, dieser Tag heute hat sich auf jeden Fall ausgezahlt.

Vivian Kellermann, die Rechte an diesem Text liegen bei der Autorin.