Nina Schiffer – Ein glücklicher Tag in Freiheit

Mach dein Richtungsding!

Ein glücklicher Tag in Freiheit

Mathe stand auf dem Stundenplan – so wie jeden Montagmorgen. Und doch wirkte Herr Lorenz, mein Mathelehrer, so, als würde gleich etwas geschehen, was nicht jeden Montag auf der Tagesordnung stand.
Meine braunen Augen richteten sich auf ihn. Ich beobachtete ihn dabei, wie er seine Hände an seiner Hose abwischte. Ein glasklares Zeichen dafür, dass er nervös war, denn das machte er dann immer so.
Er rieb seine Hände aneinander. Unter normalen Umständen müsste jetzt ein leises Geräusch hörbar werden, wie es immer erklang, wenn man seine trockenen Hände aneinander rieb, aber es war nichts zu hören. Das Aneinander-Reiben seiner Hände sagte uns, dass er den Matheunterricht beginnen wollte und zeigte heute gleichzeitig, dass ihn irgendetwas beunruhigte – sonst wären seine Hände nicht feucht gewesen.
Der Geräuschpegel ebbte ab, es wurde fast so still wie beim Militär. Wir fixierten alle unseren Lehrer, als wäre er unsere Zielscheibe. Er wusste das, und normalerweise genoss er es. Heute aber kreisten seine Gedanken um etwas anderes.
Als es an der Tür klopfte, bat er die Menschen herein. So, wie er es immer machte, und doch merkte man, dass ein wenig Anspannung von ihm abfiel. Irgendwie fiel sie von ihm ab, irgendwie auch nicht, aber man hatte das Gefühl, dass es ihm Sicherheit schenkte, dass es kein Zurück mehr gab. Er hatte keine andere Wahl, als sich der Situation zu stellen.
Ein Mädchen mit dunkelbraunen, gekringelten Locken strahlte uns entgegen. Sie wirkte so schüchtern und hilflos, und doch merkte man, dass sie sich glücklich schätzte, uns zu sehen. Neben ihr standen unser Schulleiter und ein anderer Mann – wahrscheinlich ihr Vater.
„Wie lautet dein Name?“, fragte Herr Lorenz. Ich hörte seinen Atem – und dabei saß ich nicht einmal in der vordersten Reihe.
„Sara“, erwiderte sie. Sie lächelte kurz, dann senkte sie ihren Blick wieder.
„Sara ist ein Flüchtling aus Albanien!“, erklärte uns Herr Lorenz. „Sie wird ab heute jeweils ein paar Stunden in der Woche ein Teil dieser Klasse sein!“
Ein Raunen durchfuhr die Klasse. Das war es also gewesen, was Herrn Lorenz heute Morgen so nervös gemacht hatte. „Wie ihr seht, hat sie auch schon einige Deutschkenntnisse, weil sie schon seit einigen Wochen hier lebte, bis sie einer Schule zugeteilt wurde. Aber das ist natürlich noch viel zu wenig, um hier wirklich zu leben.“
Flüchtlinge. In der letzten Zeit hatte man so viel über sie im Fernsehen oder im Internet erfahren. Und doch fühlte es sich noch einmal ganz anders an, als mir einer in die Augen blickte. Ich hatte noch kein Wort mit diesem Mädchen gewechselt und doch hatte ich das Gefühl, dass sie mir schon sehr nahe stand. Auf irgendeine Art und Weise spürte man, welche Geschichte hinter ihrem Lächeln steckte und dass sie schon viel durchgemacht hatte. Dass so ein Flüchtling kein leichtes Leben führte, fernab der Privilegien eines deutschen Staatsbürgers, war mir natürlich klar, aber man merkte diesem Mädchen an, dass diese Erfahrung sie sehr stark gemacht hatte. Und sie wusste, dass jetzt alles besser werden würde.
„Setz dich bitte neben Lou!“, sagte Herr Lorenz und zeigte auf den freien Platz neben mir.
Ich schenkte ihr ein Lächeln. Damit wollte ich ihr zeigen, dass sie hier herzlich willkommen war.
„Lou?“, fragte sie vorsichtig, als sie an meinem Platz angekommen war.
Ich nickte mit erhobenen Mundwinkeln. Ihre zartbitterschokoladenfarbenen Augen lachten mich an.
Sie trug eine zu kurze Hose und ein T-Shirt, das gerade über den Bund ihrer Hose reichte. In diesem Moment wurde mir noch einmal ein wenig klarer, was für ein wahnsinniges Glück wir Deutschen hatten. Wir erlebten jeden Tag Vorzüge, die für uns zur Selbstverständlichkeit geworden waren, und von denen Sara viele womöglich gar nicht kannte.
Unser Lehrer verabschiedete sich von unserem Schulleiter und dem anderen Mann. Die Tür schloss sich. Jetzt war er der Situation ganz alleine ausgeliefert.
Herr Lorenz versuchte, seinen Unterricht weiter fortzuführen. Wir beschäftigten uns noch ein wenig mit linearen Gleichungssystemen, aber man spürte, dass er mit seinen Gedanken eigentlich woanders war. Immer wieder fuhr seine Hand durch sein mausgraues Haar.
Die Stunde neigte sich dem Ende zu, es klingelte zur Pause.
„Lou, magst du dich um Sara kümmern?“, fragte mein Mathematiklehrer. Ich nickte. Wir setzten uns alle in Bewegung, um in die Pause zu gehen.
Sara und ich standen auf dem Schulhof. In der Ecke wo ich sonst auch immer stand. Um uns herum standen einige andere Schüler. Eigentlich sprachen sie sonst mit mir, aber heute hielten sie alle ein wenig Abstand von Sara und mir. Wenn sie das glücklich machte und sie das für richtig hielten, sollten sie das tun. Ich hatte kein Problem mit diesem Mädchen. Es tat mir nur für Sara leid. Sie merkte das natürlich auch und fragte sich bestimmt, was sie verbrochen hatte.
„Wie alt?“, fragte sie. Ihre Mundwinkel erhoben sich schüchtern.
„15“, erwiderte ich. Ich zeigte es zur Sicherheit noch einmal mit meinen Fingern. „Und du?“ Ich deutete lächelnd auf sie. Ich hatte das Gefühl, dass ihr dieses Lächeln Sicherheit schenkte.
Sie zeigte mir, dass sie ebenfalls 15 war. Sie fragte noch, ob ich Geschwister hätte. Ich erzählte ihr von meiner Schwester und sie sagte, dass sie zwei Brüder hätte.
„Hier kalt:“ Sie rieb sich die Arme.
„Stimmt.“
„In Albanien Sonne.“ Sie lächelte.
Wir gingen wieder gemeinsam hinein und unterhielten uns noch ein bisschen. Natürlich sprach sie keine langen und vollständigen Sätze, aber ich merkte, dass sie es genoss, dass sie jemanden hatte, der sich mit ihr unterhielt.
Auch als wir bei unserem Klassenraum angekommen waren, blieb ich bei ihr stehen, während wir auf Frau Schneider warteten. Ich merkte, dass mich einige meiner Mitschüler blöd von der Seite ansahen und zu tuscheln begannen.
Als Frau Schneider den Raum aufgeschlossen hatte, ließ ich Sara den Vortritt.
„Oh, Lou, hast du eine neue beste Freundin gefunden?“, bemerkte Dennis. Er lachte von oben auf mich herab.
Ich sah ihn nur fassungslos an. Wenn ich keinen Kommentar zu seiner Bemerkung abgab, würde er umso schneller die Lust daran verlieren, solche Kommentare abzugeben.
Wir setzten uns auf unsere Plätze und die Englischstunde nahm ihren Lauf. Ich spürte, dass so manch ein Mitglied dieser Klasse seinen Blick immer wieder auf mich richtete. Ich fühlte mich wie von Kameras umzingelt.
Sara spielte mit ihren Locken. Sie tat mir leid, denn sie konnte kaum etwas verstehen, aber ich musste mich auch auf meine Leistungen konzentrieren und mich anstrengen. Da konnte ich mich nicht auch noch um Sara kümmern.
Ich fragte mich, worüber sie gerade nachdachte. Vielleicht dachte sie im Augenblick an ihre Freunde und ihre Familie, die sie dort verlassen musste.
Frau Schneider reichte Sara ein Blatt. „Hier, da kannst du etwas malen.“ Meine Englischlehrerin machte es ihr einmal vor. Sara nickte.
Sie malte. So konnte ich mich noch ein bisschen besser auf den Unterricht konzentrieren.
„Gut?“, fragte Sara nach einer Weile.
„Ja, total!“ Ich lächelte. Auf dem Bild war ein Gebäude gemalt.
„Schule in Albanien gut, aber hier besser!“ Sie lächelte.
Ich glaube, es tat ihr gut, aus ihrer Heimat zu erzählen. Und ich hörte ihr gerne zu. Allmählich wurde ich aber doch ungeduldig, weil ich es nicht mochte, wenn mich jemand vom Unterricht ablenkte.
Es klopfte an der Tür unseres Klassenraumes und der zweite Überraschungsbesuch des heutigen Tages kündigte sich an.
Zwei Männer, kräftig, sehr ernst wirkend. Der eine hatte braune Haare, die er zu einem kleinen Zopf zusammengebunden hatte, während sein Kollege schon graue Haare hatte und gut zwanzig Jahre älter war. Und sie trugen eine Uniform, die jedem Bürger dieser Republik bekannt war.
Die Männer ließen ihren Blick durch die Klasse schweifen. Man merkte, wie dick die Luft plötzlich war. Jedem in diesem Raum schlug das Herz bis zum Hals, niemand wagte es, seinen Blick abzuwenden.
„Wer von euch ist Sara?“, fragte der linke von ihnen, nachdem es eine Minute lang so still gewesen war, dass man jeden Einzelnen in diesem Raum atmen hören konnte. Die blauen Augen des Polizisten machten eine Runde durch die Klasse.
Alle sahen zu ihr. Wer Sara war, war dann jetzt wohl geklärt.
Das Getuschel begann wieder einmal. Bei manchen hatte ich das Gefühl, dass sie sehnsüchtig auf diesen Moment gewartet hatten. Sie kannten Sara doch noch gar nicht! Und doch hatten sie sich schon ihr Urteil über sie gebildet.
Das, was hier gerade vor sich ging, hatte Sara nicht verdient. Man merkte ihr an, dass sie angespannt war. Wie Herr Lorenz heute Morgen.
„Kommst du bitte mit uns!“, forderten die zwei sie auf und machten die entsprechende Handbewegung. Sie sprachen eindringlich, aber man spürte, dass sie auch nur einer Pflicht nachgingen und dass sie eigentlich zumindest eine minimale Portion an Mitleid für Sara empfanden. Der Mann mit den grauen Haaren ging einen Schritt nach vorne.
„Komm!“ Diesmal sagte er es ganz ruhig, richtete seine blauen Augen auf Sara, er zeigte ihr, dass sie keine Angst zu haben brauchte.
Sie zögerte erst einige Sekunden, dann erhob sie sich aber doch. Ihr war bewusst, dass das hier nichts Gutes zu bedeuten hatte. Aber vielleicht wollten sie ja nur für das Amt ein paar Daten über sie erfahren?
In diesem Augenblick war mir noch nicht klar, was dieser Besuch zu bedeuten hatte. Ich wusste nicht, dass ich Sara nie wiedersehen würde. An diesem Tag erkannte ich, wie schnell aus Hell Dunkel werden konnte: Es war leicht, eine helle Wand dunkel zu streichen, aber umso schwerer, eine dunkle wieder hell einzufärben. Ihre Lage führte mir vor Augen, dass auch bei einer hellen Wand die dunkle Farbe immer noch durchschimmerte. Und dass sie so oft triumphierte. Wie sich wohl jemand fühlte, der ein Leben lang zwischen dunklen Wänden gelebt hatte, wenn er dann plötzlich ins Helle trat? Wie sich das wohl für sie angefühlt hatte? Wie gerne ich ihr einmal diese Frage stellen würde.

Nina Schiffer, die Rechte an diesem Text liegen bei der Autorin.