Hier ist die Welt noch in Ordnung
„Hier ist die Welt noch in Ordnung“, sagte sie. Damals, in seinen Armen, auf die tobende Nordsee blickend, über der langsam die Sonne unterging. „Weißt du, auch wenn die ganze Welt vor die Hunde geht, hier bleibt es immer schön, immer friedlich.“
Gleichheit und Einheitlichkeit regieren die deutsche Küste.
Manche nennen sie Charme, er nennt sie Fesseln.
Alle Häuser gleich, alle Gärten gleich, alle Bewohner gleich. Wozu dem roten Backstein widersagen, er sieht doch so schnuckelig an den Fassaden der Anderen. Und auch der Gartenzwerg, ja, der muss unabdingbar aufs gemähte Grün. Nachher wird noch getratscht, man wäre anders. Bah, mit so was will man ja auf keinen Fall belegt werden!
Biedere Doppelmoral schlängelt sich als geheimer roter Faden durch die Nachbarschaft, ist allgegenwärtig in den Unterhaltungen in der Kneipe oder am Gartenzaun.
Eigentlich ist die Welt noch in Ordnung, ja. Der kleine Hannes hat Geburtstag und bekommt ein Fahrrad geschenkt, Frau Ucker backt einen Kuchen und der Familienhund darf den restlichen Teig aus der Schüssel lecken.
Aber Zufall und Schicksal flanieren Händchen haltend mal hier, mal dort entlang und man sieht es ihnen kaum an, aber sie führen Böses im Schilde. Jedem Keller seine Leichen, denken sie sich und kramen so richtig tief in der Kiste der Gräueltaten und des schlechten Geschmacks, um der Küstenidylle zu zeigen, wie verdammt wenig Idylle sie eigentlich ist.
Wie wär’s denn mit einem kleinen Ehestreit, in dem ein Messer mehr sagt als tausend Worte? Oder der simplen Niederstreckung von beruflicher Konkurrenz?
Und Morde sind ja auf Dauer auch langweilig. Pädo-, Nekro-, Zoophilie – wir haben alles dabei! Zeigt her eure reinen Hände, wir verschmutzen sie, so gut wir können!
Eigentlich ist die Welt noch in Ordnung, ja. Hannes schießt mit der geklauten Schrotflinte seines Großvaters am Strand ein paar unschuldige Vögel ab und Frau Ucker mischt aus einer Eingebung heraus das seit Ewigkeiten im Schrank auf seinen Einsatz wartende Gift in den millionsten Marmorkuchen-Teig.
Hund verreckt, Familie verreckt, alles ganz versteckt unter dem Mantel der Gutbürgerlichkeit.
Und weil die Welt ja so in Ordnung ist, geht er auf den Damm zum Grab seiner Geliebten und bringt ihr Blumen und stotternden Smalltalk und ein paar ehrliche Tränen.
Er weiß, dass der Krebs Schuld ist, nicht er, aber trotzdem schmerzt es ihn. Nie zu Untersuchungen gedrängt, auch im fortgeschrittenen Alter – und dann war auf einmal die Diagnose da und ganz schnell die Himmelfahrt.
Die Grabstätte hat er mit Bedacht gewählt. Es ist genau der Ort, an dem sie als junge Liebende standen, vereint in der wunderschönsten Umarmung aller Zeiten und hinausblickend auf die See, die nie wieder so stürmisch und verspielt war – perfektes Vergleichsobjekt zu ihrer Beziehung.
Sie sagte ihre verhängnisvollen Worte, und er antwortete mit einem schlichten „Ja“, dann küssten sie sich.
Wäre die Welt noch in Ordnung, denkt er, dann hätten Zufall und Schicksal ja gar keinen Spaß mehr, ständen quasi ohne Job da – und das will er ihnen ja nun auch nicht wünschen.
Nachdenklich tritt er den Heimweg an, stumm grübelnd über einen Tunnel am Ende des Lichts.
Lucas Schwarz, die Rechte an diesem Text liegen bei dessen Autor.