Dustin Heye – Wir sind doch alle gleich

Mach dein Richtungsding!

Wir sind doch alle gleich

Frau Wilke sah sich selbst immer als ganz normal. Klar, sie wusste vielleicht nicht über alle Neuigkeiten in der Welt Bescheid und ihr Wissen über die aktuelle Popkultur, mit Trends wie Selfies oder Flashmobs war nicht auf dem neusten Stand, aber eigentlich war Frau Wilke doch recht gewöhnlich. Sie selbst war nie berufstätig gewesen. Ihr Mann war Filialleiter einer Bank gewesen und wusste sehr gut, wie man mit Geld umgeht. Leider war er vor zwei Jahren verstorben und selbst heute tat sich Frau Wilke sehr schwer, mit dem Verlust ihres Mannes klarzukommen. Sehr oft deckte sie noch für zwei Personen den Tisch und kaufte diesen italienischen Wein, den eigentlich nur ihr Mann getrunken hatte. Geldsorgen hatte sie nicht, denn Herr Wilke hatte keine arme Witwe zurück gelassen. Hin und wieder arbeitete sie ehrenamtlich in der Gemeinde und unterstützte gewisse Projekte. Das letzte Projekt hatte sich mit der Säuberung von Spielplätzen beschäftigt, bei der man Hundekacke aus den Sandkästen entfernt hatte, oder die leeren Bierflaschen aus den Gebüschen gesammelt worden waren. Es war nicht gerade Frau Wilkes schönstes Hobby, aber ansonsten wusste sie kaum, was sie mit ihrer Freizeit anfangen sollte. Sie hatte weder Kinder noch Verpflichtungen gegenüber Freunden und Bekannten. Dies sorgte dafür, dass Frau Wilke mittlerweile kaum noch vor die Tür trat. Wieso auch? Bei allem was in der Welt passierte: Pädophile und Vergewaltiger an jeder Ecke, Teenager die grundlos Andere krankenhausreif prügelten und dann waren da auch noch diese Flüchtlinge. Erst letztens hatte sie wieder einen Artikel gelesen, dass fünf Jugendliche einen Kiosk ganz in ihrer Nähe überfallen hatten, und eine dieser Personen war als Flüchtling nach Deutschland gekommen, wenn sie sich nicht verlesen hatte. Der Gedanke, dass diese Menschen irgendwann vielleicht vor ihrer Haustür stehen konnten, machte ihr Angst. Die Medien berichteten ja immer so schlimme Sachen und Deutschland ist doch ein so großes Land, wie konnte es da sein, dass es so überfüllt war? „Man ist selbst im eigenen Haus nicht sicher.“ Diese und ähnliche Gedanken gingen Frau Wilke immer wieder durch den Kopf und sie schien partout keine Antwort zu finden. „Sind doch alle gleich“, dachte sie sich.

Für Frau Wilke stand eine Reise an. Sie musste aus familiären Gründen nach New York. Es war ein komisches Gefühl, als sie angerufen wurde und ihr mitgeteilt wurde, dass ihre einzige Schwester gestorben sei. Frau Wilke wusste nicht einmal, was ihre letzten Worte gewesen waren. Und jetzt sollte sie die lange Reise nach New York antreten, damit sie ihrer Schwester die letzte Ehre erweisen könnte? Irgendwie war sie unsicher. Sie hatte mit ihrer Schwester nicht viel zu tun gehabt, deshalb empfand sie so eine Reise nur als unnötigen Stress und verschwendete Zeit. Sie dachte an ihren Mann. Er war mit seiner Familie in sehr engem Kontakt gewesen und hatte auch seine Frau oft ermutigt, sich zumindest an Weihnachten bei ihrer Schwester zu melden. Sie wusste, dass er vermutlich ohne Zögern abgereist wäre. Von ihrer isolierten Wohnung zur wohl bekanntesten Stadt der Welt – Frau Wilke hätte diese Ironie bestimmt nachdenklich gemacht, doch bei den ganzen Vorbereitungen hatte sie dafür keinen Kopf. Als sie mit einem prüfenden Blick ihr Gepäck überschaute, hörte sie plötzlich Gelächter. Es war nicht zu überhören, dass es aus dem Garten kam. Panisch huschte sie zum Fenster, das einen Blick auf den Garten erlaubte. Dort saßen sechs Personen. Diese hatten ein südländisches Aussehen und trugen abgetragene Kleidung. Sie erkannte drei Erwachsene – zwei Frauen und einen Mann. Diese hatten drei kleine Kinder bei sich. Die Erwachsenen hockten auf Frau Wilkes Terrasse, während die Kinder im Garten Fangen spielten. Frau Wilke war sauer. Sie hatte immerhin teures Geld für ihr Privatgrundstück bezahlt und jetzt meinten irgendwelche Fremden, ihren Garten für sich beanspruchen zu können?
„Das ist eine Unverschämtheit!“, fluchte sie vor sich hin. Ihr tat es leid, was die Flüchtlinge wohl alles durchgemacht hatten, aber sie konnten nicht nach Deutschland kommen und einfach gegen Regeln verstoßen! Sie hielt kurz inne: Was war, wenn weitere auf dem Weg hierher waren? Vielleicht wollten sie ja einen Anschlag in der Nähe verüben? Frau Wilke wurde ganz blass. Sie griff zum Hörer und informierte die Polizei. Man versprach ein bis zwei Beamte vorbeizuschicken, die mal nach dem Rechten sehen würden. Es verging einige Zeit und Frau Wilke wurde unruhig. Sie war es nicht gewohnt, fremde Menschen so nah an ihrem Haus zu haben, vor allem wenn sich diese auch noch im Garten breitmachen. Frau Wilke stand immer noch am Fenster und beobachtete mit gekreuzten Armen, wie die Familie im Garten saß. Beim Beobachten fiel ihr plötzlich auf, wie eines der Kinder beim Fangen nach hinten stolperte und in einem Rosenbusch landete. Dieser Rosenbusch war für Frau Wilke ein Heiligtum, denn ihr Mann hatte diesen Rosen sehr viel seiner Freizeit gewidmet. Für ihn waren sie die schönsten Blumen und er hatte sie gepflegt wie ein eigenes Kind. Und nun so etwas? Empört rannte Frau Wilke die Treppe runter und spurtete förmlich in den Garten. Beim Betreten des Gartens bemerkte Frau Wilke, wie die Kinder sie anstarrten. Das brachte das Fass zum Überlaufen. Sie war die Eigentümerin und man hatte sie mit Respekt zu behandeln. Ihre aufgebrachte Erscheinung beängstigte die Kinder, die sich an die Erwachsenen klammerten. Doch dies hielt Frau Wilke nicht davon ab, sich Gehör zu verschaffen. „Sagen Sie mal, was soll das hier? Sie haben kein Recht, hier zu sein. Das ist ein Privatgrundstück! Was fällt Ihnen eigentlich ein? Packen Sie Ihren Kram zusammen und verschwinden Sie!“, brüllte Frau Wilke quer durch den Garten.
Eingeschüchtert lief ein Mann aus der Gruppe mit vorsichtigen Schritten auf sie zu. Er versuchte, mit Frau Wilke zu kommunizieren, aber sein Deutsch war nicht gerade gut. „Bitte, bitte, wir hungrig. Nichts haben Unterkunft. Fünf Minuten. Fünf Minuten. Wir ganz friedlich. Wir alle gleich.“ Doch Frau Wilke hörte gar nicht zu und begann weiter zu brüllen. „Mir ist es vollkommen egal, was Sie hier machen, Sie haben kein Recht, hier zu sein! Gehen Sie gefälligst woanders hin! Und wenn Sie schon Deutsch sprechen wollen, dann machen Sie das wenigstens richtig!“
„Und jetzt beruhigen Sie sich mal bitte!“, sprach eine Stimme von der anderen Seite des Gartens. Es waren die zwei Polizeibeamten, die nach Frau Wilkes Anruf geschickt wurden. Es dauerte fast eine Stunde, bis die beiden die Lage geklärt hatten. Nach einer langen Diskussion verließ die Familie den Garten. Die Beamten wirkten nicht glücklich darüber, dass sie Frau Wilke Recht geben mussten. Frau Wilke blickte beiläufig auf ihre Armbanduhr. Entsetzt bemerkte sie, dass sie in ein paar Stunden ihren Flieger nehmen musste und noch viel zu tun hatte. „Das alles wäre so viel schneller gegangen, wenn dieses Pack vernünftig Deutsch sprechen könnte.“
Einer der Polizisten runzelte die Stirn. „Wie viele Sprachen können Sie denn sprechen?“
Frau Wilke schwieg. Tatsächlich war Deutsch die einzige Sprache, die sie wirklich fehlerfrei beherrschte. Selbst Englisch konnte sie nicht richtig sprechen.
„Wenn ich Ihnen einen Rat geben darf“, ergänzte der andere Beamte. „Manchmal sollten Sie sich vorher überlegen, ob es wirklich nötig ist, auf jeder Kleinigkeit rumzuhacken. Manche Menschen haben es bereits schwer genug und verdienen Momente der Sicherheit, auch wenn es nur eine fünfminütige Pause in einem schönen Garten ist. Ich kann verstehen, dass Sie Angst haben. Gerade in der momentanen Lage ist es gut, dass sie vorsichtig sind. Aber machen Sie sich ein Bild von der Person hinter der Fassade. In dieser Hinsicht sind wir doch alle gleich, Frau Wilke.“
„Ach, werden Philosophie-Studenten heute schon Polizisten?“, fragte sie gereizt.
„Ich merke schon, das hat keinen Sinn“, murmelte der andere Beamte. „Nur noch eine Sache: Stellen Sie lieber Schilder auf, dass es sich hier um ein Privatgrundstück handelt. So wie Sie Ihren Garten bepflanzt haben, macht es nämlich nicht den Eindruck.“ Nachdem sich die Beamten verabschiedet hatten, hetzte Frau Wilke wieder zurück in ihr Haus und begann mit den Vorbereitungen.

Wenige Stunden später hatte sie die Koffer gepackt und auf zum Flughafen. Die riesigen Terminals und großen Räume verunsicherten Frau Wilke. Sie tat sich schwer, die Zeit am Flughafen zu überbrücken. Die Menschenmengen machten ihr Angst und alleine fühlte sie sich irgendwie ausgeliefert und schutzlos. Zum Glück fand sie eine kleine Bäckerei, in der sie sich bis zum Abflug verstecken konnte. Aber sie ahnte, dass dieser Flughafen, was Unübersichtlichkeit betraf, gar nichts war, gegen New York. Der Flug verlief ohne besondere Vorkommnisse. Hier war das Glück sogar auf Frau Wilkes Seite, denn sie saß ganz allein in ihrer Reihe. Über den Vorfall im Garten dachte sie nicht mehr nach. Für sie war es nur wichtig, dieses Wochenende hinter sich zu bringen. Als die Maschine dann über New York flog, blickte Frau Wilke aus dem Fenster. Die Sicht war beeindruckend. Sie war vor ungefähr 20 Jahren schon mal mit ihrem Ehemann in New York gewesen. Es war eine tolle Zeit und sie hat viele Eindrücke gewonnen. Leider hatten sie es nicht mehr auf die Freiheitsstatue geschafft. Ihr Mann hatte ihr versprochen, dass er sie beim nächsten Mal ganz nach oben mitnehmen würde. Doch dazu war es nicht mehr gekommen. Nun hatte sie vor dieser großen Stadt Angst. Und da stand sie nun, am Flughafen von New York. Sie fühlte sich sehr unwohl. So viele Geräusche und so viele Menschen. Sofort fielen ihr die vielen Werbescreens auf, über die bunte und schnelle Spots flimmerten, als sie sich durch die Menge begab. Da wurde für Sachen geworben, die sie gar nicht kannte. Sie stand nun mitten auf der Straße. Frau Wilke fühlte sich verloren und versuchte, neuen Mut zu fassen. Sie konnte zwar kein Englisch, aber was ging das die anderen an? Sie hatte doch das Recht, da zu sein, wo sie wollte, außerdem würde sie schon zurechtkommen, sie war ja nicht dumm. Aus ihrer Handtasche kramte sie den Zettel hervor, auf dem die Adresse des Hotels stand, in dem sie für das Wochenende wohnen würde, und außerdem eine Art Merkzettel. Die Beraterin des Reisebüros hatte hier alles notiert, was man über New York wissen und im Urlaub beachten musste. Frau Wilke knüllte den Zettel zusammen und warf ihn weg . „Ist doch wie Deutschland, nur größer und mit einer anderen Sprache.“ Nun versuchte sie ein Taxi zu finden. Leider dauerte dies ohne Englischkenntnisse länger als geplant. „Man hätte das alles auch mal in Deutsch ausschildern können“, maulte Frau Wilke. Auch wenn es bereits spät war, beschloss sie, ein Stück zu laufen, vielleicht würde sie ja so ein Taxi finden. Ihre Wünsche wurden erhört, sie bemerkte ein Taxi. Es stand am Rand einer etwas leeren Straße. Weit und breit war kein anderes Taxi zu sehen. Stand auf dem Merkzettel nicht, dass Taxis in der Regel in mehreren Reihen zusammenstehen und man unter keinen Umständen in ein Taxi einsteigen soll, dass an einem isolierten Ort steht? „Ach, was soll’s!“, dachte Frau Wilke.

Sie stieg ein und setzte sich auf die Rückbank des Taxis. Doch bevor sie überhaupt realisierte, was sich gerade abspielte, tauchten zwei maskierte und schwarz gekleidete Männer auf und hielten Frau Wilke zwei Pistolen an den Kopf. Mit einer lässigen Handbewegung nahm der Taxifahrer, der nun ebenfalls eine Maske trug, ihr ihre Handtasche ab. „I’ll take this, thank you“, sagte er hämisch.
Frau Wilke war außer sich. „Ein Überfall! Hilfe!“, schrie sie entsetzt.
Die Gangster lachten. „Wie lustig, du bist die erste Deutsche, die wir hier überfallen“, sagte die Person, die links neben Frau Wilke saß.
„Ihr seid Verbrecher! Lasst mich sofort gehen! Wie könnt ihr mir das antun?“
„Ach komm, was das angeht, sind wir doch alle gleich. Wir wollen doch alle nur Kohle machen. Und jetzt gute Nacht.“
Als Letztes spürte Frau Wilke, wie ihr jemand etwas in den Hals stach, dann wurde alles schwarz und sie fiel in einen tiefen Schlaf.

Als Frau Wilke erwachte, zitterte und fror sie am ganzen Körper. Sie lag auf dem Boden einer Seitengasse. Langsam kam sie wieder zu sich, allerdings erinnerte sie sich nicht, was passiert war, nachdem sie in das Taxi eingestiegen war. Dann fiel ihr auf, dass nicht nur ihre Tasche weg war, sie selbst hatte bis auf ihre Unterwäsche keine Kleidung an. „Was ist nur passiert?“, fragte sie sich und richtete sich auf. Sie war verängstigt und verwirrt, suchte verzweifelt nach jemandem, der ihr helfen konnte. Sie hatte nichts mehr, keinen Ausweis, kein Geld, kein Ticket. Aus einer Mülltonne hatte sie ein altes Kleid gezogen und übergestreift. Sie war komplett hilflos in einem fremden Land. Irritiert lief sie die Straßen entlang, sie hatte überhaupt keine Ahnung wo sie war. Sie spürte die Blicke der Passanten, die an ihr vorbeiliefen. Sie schauten angewidert und verängstigt drein. Sie wusste, was diese Leute nun dachten, aber sie waren doch eigentlich wie sie. Warum meinten diese Menschen, sie beurteilen zu können? Frau Wilke fühlte sich fremd und wollte wieder nach Hause. Aber sie konnte nicht fort, sie war vorerst gezwungen, in diesem Land zu bleiben. Niemand schien ihr helfen zu wollen oder sich ihre Geschichte anzuhören. Sie taten nichts Anderes als über ihr Aussehen und ihre Kleidung zu urteilen. Panisch blickte sie umher und irrte weiter durch die Straßen. Schließlich wurde sie von einer Gruppe Männer angesprochen. Frau Wilke fand, dass sie eigentlich ganz normal aussahen. Jeans, Turnschuhe, Jacken. Nichts Auffälliges. „Hey there, is everything alright?“ Frau Wilke reagierte verunsichert, sie konnte doch gar kein Englisch, aber wie hoch wäre schon die Chance hier jemanden zu finden, der Deutsch sprechen konnte? „No, not fine. I got attack. Clothes away. No money. No ID. Help.“ Der Mann unterbrach sie. „If you want to speak English, please do it correctly. Are you german? I can tell by your accent.“
Sie nickte begeistert. „Ja, yes, deutsch, ähhm, german“, stammelte sie.
Doch die Bande blickte nun überhaupt nicht begeistert drein. Plötzlich zog einer der Männer einen Baseballschläger hervor und bevor Frau Wilke reagieren konnte, schlug er damit gegen ihren Schädel. Frau Wilke stürzte zu Boden. Nun wollten zwei der Männer sie festhalten, während die anderen weitere Anstalten machten, sie zu schlagen. Einer schrie: „You fucking Germans are all the same!“ Ihr Kopf schmerzte höllisch. Sie flehte die Männer an, aufzuhören und begann, zu weinen und zu schreien. Aber der Mann hob wieder den Baseballschläger und richtete ihn auf Frau Wilkes Kopf. „This is for my mother who died in your explosion. You fucking bitch!“
Doch dann ließ der Mann den Baseballschläger sinken. Ihre Blicke konzentrierten sich nun auf etwas hinter Frau Wilke. Es war fast so, als wäre sie gar nicht mehr da. Sie hörte das Wort „Police“.
Frau Wilke hörte ein Rauschen, wie bei einem kaputten Fernseher und musste kämpfen, nicht bewusstlos zu werden. Irgendwann floh die Bande. Frau Wilke bemerkte, wie ihr jemand an die Schulter packte und ihr auf die Beine half. „Kommen Sie, ich bringe Sie ins Krankenhaus.“ Frau Wilke war durch den Schlag benommen und realisierte gar nicht, was gerade überhaupt passiert. Sie hatte keine Ahnung, wer ihr da überhaupt das Leben rettete.

Als sie im Krankenhaus ankam und die Ärzte sich um ihre Wunde kümmerten, wurde ihre Wahrnehmung wieder besser. Endlich erkannte sie ihren Retter. Es war ein Mann, ungefähr Mitte 30. Er trug einen feinen schwarzen Anzug und ein weißes Hemd. Dazu trug er schwarze Lackschuhe. Er sah südländisch aus. Er stellte sich als Mohammed vor. Im Gespräch erklärte er, dass es im Viertel vor einiger Zeit einen Bomben-Anschlag gegeben hatte, welcher von deutschen Terroristen ausgeführt worden war. Seit dem genossen die Deutschen im Viertel kein gutes Ansehen mehr. „Schrecklich“, dachte Frau Wilke „Wie kann man einen Menschen wegen seiner Herkunft nur so behandeln? Wieso reduziert man die ganze Bevölkerung auf das Verhalten solcher Kriminellen?“, fragte sie sich laut. Mohammed stimmte zu. „Ich habe das auch durchgemacht. Ich und meine Familie kamen als Flüchtlinge nach New York. Kaum einer wollte uns helfen und wir konnten nicht richtig Englisch. Wir hätten bestimmt nicht lange überlebt. Doch dann trafen wir Menschen, die uns eine Chance gaben. Sie sahen in mir und meiner Familie keine Bedrohung sondern Potenzial. Potenzial, um unser eigenes Leben zu verbessern. Ich lernte richtig Englisch, ich ging zur Schule, hatte gute Noten. Später bekam ich dann sogar ein Stipendium und konnte studieren. Die Kosten dafür hätten meine Eltern nie stemmen können. Ich habe mich nie von negativen Einflüssen stören lassen. Es war hart, aber irgendwann habe ich mir meinen Traum erfüllt, bin jetzt Geschäftsführer. Außerdem spreche ich mehrere Sprachen, darunter fließend Deutsch, wie Sie merken.“
Frau Wilke war beeindruckt. „Und das trotz all dieser Probleme? Gab es niemals Menschen, die dich deswegen schief angeguckt haben?“
Mohammed erklärte: „Es gab da viele Menschen, die mit mir nichts zu tun haben wollten. Aber ich habe mich nicht unterkriegen lassen. Was macht sie besser als mich? Gar nichts. Kein Mensch ist mehr oder weniger wert, egal woher er kommt und wie er lebt. Im Endeffekt sind wir alle gleich.“
Frau Wilke machten diese Worte nachdenklich. Dieser junge Mann erinnerte sie an jemanden und gleichzeitig hatte sie plötzlich riesige Schuldgefühle. „Es war so schrecklich. Kaum in New York angekommen, wurde ich überfallen. Man hat mir alles genommen, alles! Selbst meine Klamotten haben die gestohlen. Ich bin komplett ohne Identität hier. Ich kann leider auch nicht die Krankenhauskosten bezahlen. Tut mir leid, Mohammed, aber ich bin für dich nur ein Klotz am Bein. Und dann diese Schläger. Als ich am Boden lag dachte ich, dass ich jetzt sterben würde.“
Frau Wilkes Stimme zitterte bei dieser Erklärung. Mohammed berührte vorsichtig ihre Schulter.
„Beruhigen Sie sich erstmal. Sie haben eine Menge durchgemacht, aber hier sind Sie in Sicherheit. Überlassen Sie das alles mir. Ich habe Kontakte zur Polizei und zu Anwälten. Die können überprüfen, welche Taxis geklaut wurden und danach suchen. So könnten wir die Täter vielleicht finden. Ich werde mein Bestes tun, um Ihnen zu helfen.“
Diese Worte beruhigten Frau Wilke. Irgendwas an Mohammeds Art, machte ihn sehr sympathisch für Frau Wilke. „Ich muss jetzt leider gehen. Entspannen Sie sich. Ich komme Sie morgen wieder besuchen. Und machen Sie sich keine Sorgen um die Kosten, die habe ich bereits für Sie übernommen.“
Mit diesen Worten verabschiedete sich Mohammed für den Tag.

Die Verbrecher wurden zwei Tage später von der Polizei bei einem Überfall auf einen Juwelier gestellt. Frau Wilkes persönliche Gegenstände waren auch dabei, anscheinend konnte die Bande nicht viel mit den Sachen anfangen. Ein Glück, dass Frau Wilke so altmodisch lebte! Mohammed hatte nicht nur die Krankenhausrechnung übernommen, er finanzierte Frau Wilke für die restlichen Tage auch ein Hotelzimmer und brachte sie zur Beerdigung. Nicht viele hätten in dieser Situation so viel Hilfsbereitschaft gezeigt und eine fremde Frau eher auf der Straße sitzen gelassen. Frau Wilke sah die Beerdigung plötzlich mit ganz anderen Augen. Ein Leben kann sehr schnell vorbei sein. Sie dachte sehr viel an ihre Schwester und auch an ihren Mann. Ihr Leben verlief nicht gerade so, wie die Beiden es gewollt hätten? Sollte ihr Leben noch mehr zu bieten haben? Wenn sie jetzt an den Tod ihrer Schwester dachte, fühlte sie plötzlich einen Schmerz, der vorher nicht da war. Durch Mohammed lernte sie nun auch die Stadt kennen. Er zeigte ihr viele Orte, die Frau Wilke allein wohl nie betreten hätte. Wenn sie über ihre Angst nachdachte, wirkte es fast lächerlich. Sie und Mohammed verstanden sich wirklich sehr gut. Schon lange hatte sie nicht mehr so viel Spaß gehabt. Dann kam die Abreise. Am liebsten wäre Frau Wilke doch da geblieben. Sie versprach Mohammed, dass sie in Kontakt bleiben würden. Sogar ein Smartphone wollten sie sich kaufen, damit sie immer chatten könnten. Und irgendwann käme Mohammed dann mal nach Deutschland. Zu Hause dachte Frau Wilke noch lange über das Wochenende nach. Es war zum Schluss ein sehr schönes Wochenende gewesen, doch irgendwie hatte Frau Wilke gleichzeitig ein komisches Gefühl. Es fühlte sich so an, als hätte sie jemanden Unrecht getan und sich unfair benommen. Rasch nahm ihr Leben wieder seinen ruhigen und normalen Gang.

Wie jeden Morgen stand Frau Wilke in der Küche und kochte Kaffee. Gerade, als sie sich eine Tasse einschenken wollte, hörte sie lautes Gelächter aus dem Garten. Neugierig lief sie zum Fenster. Im Garten saßen fünf Personen. Diese Situation kam ihr so bekannt vor, geradezu ein Déjà-vu. Sie erkannte zwei Erwachsene und drei Kinder, die zusammen in einem Kreis, in der Mitte des Gartens saßen. Nach einer Weile ging Frau Wilke wieder in die Küche und bereitete ein Tablett vor. Sie nahm das Tablett und lief damit in Richtung des Gartens. Auf dem Tablett standen drei Tassen Kaffee und drei Gläser mit Orangensaft, außerdem etliche Sandwichs. Schließlich sind wir alle gleich. Wir sind alle Menschen in einer ungerechten Welt.

Dustin Heye, die Rechte an diesem Text liegen bei dessen Autor.